Alzheimer-Autorin Margot Unbescheid: „Man kann die Betroffenen nicht behandeln wie widerspenstige Kleinkinder“

04.10.2023

Plakat zur Lesung "Demenz"

Am Mittwoch, 11. Oktober von 18 bis 20 Uhr kommt die Frankfurter Autorin und Referentin Margot Unbescheid auf Einladung der Büchereien Münster/Altheim und der KEB Katholische Erwachsenenbildung St. Michael zu einer kostenlosen Lesung in die Kulturhalle Münster. Ihre eigenen, jahrzehntelangen Erfahrungen als pflegende Angehörige eines demenzkranken Vaters hat sie in dem Buch „Alzheimer – Das Erste-Hilfe-Buch“ zusammengefasst und freut sich an diesem Abend auf einen Austausch mit dem Publikum. Büchereileiterin Lena Brunn hat ihr vorab ein paar Fragen zu dem komplexen Thema Demenz gestellt.

Lena Brunn: Liebe Frau Unbescheid, Sie unterstützen schon seit langer Zeit die Pflege Ihres an Demenz erkrankten Vaters. Gibt es einen Schlüsselmoment, der Sie dazu angeregt hat, ein „Erste-Hilfe-Buch“ für andere zu schreiben?

Margot Unbescheid: Ja, den gab es – genau genommen zwei Schlüsselmomente. Eine Freundin, der ich von den Mühen des Umganges mit Vater anfangs häufiger erzählte, schlug mir vor, alles aufzuschreiben. Sie meinte, damit sei die Zeit der Beschäftigung mit ihm besser genutzt. Es lohnte sich ja, sein Verhalten intensiver zu beobachten, um die Erkrankung immer besser zu verstehen, statt nur angespannt anwesend zu sein und innerlich über sein belastendes Verhalten zu stöhnen. Diesem Rat bin ich gefolgt.

Als ich später besser zu Rande kam mit seiner Erkrankung und mehr darüber gelernt hatte, warum er oft so anstrengende Verhaltensweisen an den Tag legen musste, wurden diese Notizen die Grundlage für mein Buch. Es sollte eines werden, in dem zu lesen war, wie genau es zugeht mit der Versorgung und später mit der Pflege zu Hause. Um damit andere Betroffene und ihre Familien zu unterstützen und davor zu bewahren, die gleichen Fehler zu machen wie wir am Anfang.

Zum Beispiel?

Als erstes sollte man sich klar machen, dass es eine gehirnverändernde Erkrankung ist, die sein oder ihr „seltsames“ Benehmen auslöst. Womit es leichter wird, einzusehen, dass man die erwachsenen Betroffenen nicht plötzlich behandeln kann wie widerspenstige Kleinkinder. Ständig an ihnen herum zu kritteln, macht kaum etwas besser, sondern verdirbt nur die Stimmung. Also steht man ihnen besser mit Geduld bei, wenn zum x-ten Mal die Milch nicht in der Kaffeetasse landet, sondern immer wieder über das Tischtuch auf den frischgereinigten Wohnzimmerteppich tropft.

Wir sprechen in der Lesung auch über das Thema „Lügen oder Nichtlügen“. Wie wichtig ist im Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen die eigene Authentizität als zuverlässige Vertrauensperson?

Wenn man das beantworten will, dann muss man das eigene Verhalten genauso beachten, wie auch das seinige/ihrige. Diese Frage wird immer wichtiger, wenn die erwähnten Schwierigkeiten den gewohnten Alltag durcheinanderbringen. Das geschieht, wenn ein Betroffener plötzlich nichts mehr verstehen oder einsehen „will“ – wie man anfangs glaubt. Sich zum Beispiel weigert, mit zum Arzt zu kommen – wohin er aber doch unbedingt muss!

Hierbei landen wir ganz fix bei der Frage, wie weit mein Betroffener sich auf mich verlassen beziehungsweise mir vertrauen können muss. Darf ich ihn einfach anlügen, zumindest ein bisschen schwindeln, um ihn dazu zu bringen, das zu tun, das ich jetzt für notwendig halte? Oder sind es nicht gerade diese schwierigen Situationen, in denen die Einigung nicht klappt, dass mein Betroffener erleben muss, dass er sich auf uns, seine Versorgenden verlassen kann? Dass wir irgendeinen Kompromiss finden müssen, den er akzeptieren kann? Genau hier wird es wichtig, dass ich als Versorgende mir meine Rolle ganz klar vor Augen führe: Ich habe seine Versorgung und damit die Aufgabe übernommen, ihm oder ihr beizustehen. Wenn das schwierig wird, dann brauche ich Hilfe: Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn, professionelle Berater.

Was sind aus Ihren Vortragsreihen und Lesungen die häufigsten Sorgen, die Angehörige plagen?

Das Übliche: steigende Uneinsichtigkeit, er/sie hört nicht, macht alles kaputt, will nicht mit zum Einkaufen, nicht zum Arzt. Will vielleicht sogar zur Polizei, um Frau, Sohn oder Tochter anzuzeigen. Benimmt sich auffällig oder schlecht in der Öffentlichkeit. Besteht darauf, Auto zu fahren, obwohl er es nicht mehr kann. Auch dieses Problem kenne ich sehr gut. Es gibt viele Versuche, damit umzugehen – zum Beispiel das Auto einfach in die Werkstatt fahren – oder sonst wo hin und dann zu behaupten, es befinde sich in Reparatur. In der Hoffnung, dass der Betroffene sich beruhigt, sobald es außer Sicht ist. Verschwindet dann auch noch der Schlüssel, kann allerdings das Gegenteil geschehen – der Betroffene saust dann vielleicht auf die Straße und versucht die Autos der Nachbarn mit dem Haustürschlüssel aufzuschließen. Also gut überlegen, was man tut – am besten mal in einer der Selbsthilfegruppe nach neuen Ideen fragen, wie Betroffene sich vom Auto ablenken lassen.

Was treibt Angehörige noch um?

Weiterhin klagen sie über die eigene Erschöpfung, ständiges Alleinsein, Vereinsamung, Überlastung, Krankheiten, das Fehlen von Hilfe aus der Familie, auch über Vorwürfe aus dem Familienkreis. Darüber, dass Ärzte zu weit weg sind (ländliche Bereiche), es zu wenig Termine gibt, dass kaum Hinweise zu finden sind über Unterstützung oder Beratungsstellen.

Haben sich Angehörige nach der Lektüre Ihres Buches schon einmal an Sie gewandt und Ihnen Rückmeldung gegeben oder persönliche Erfahrungen geteilt?

Die erste Ausgabe meines Buches erschien ja bereits vor einigen Jahren – ich war seither auf Lesereisen quer durch Deutschland und bin es bei Bedarf immer noch. Und nach jeder Lesung, jedem Vortrag unterhalte ich mich mit dem Publikum, in dem immer die Mehrheit grade ihre Betroffenen versorgt. Nach der Diskussion kommen immer einzelne Betroffene und fragen zusätzlich nach Rat oder teilen mir persönliche Erfahrungen mit. In der Regel haben sie nichts dagegen, dass man diese Erfahrungen auch an andere Versorgende weitergibt.

Margot Unbescheid. Foto: privat
Margot Unbescheid. Foto: privat